reportage/ „Ich bin nicht schwarz, Ich bin nicht weiß. Ich bin Alice Francis.“

Sie ist als Königin des Elektroswings bekannt. Ihre Auftritte sind glamourös. Sie erinnern an die Roaring Twenties. An Josephine Baker. An den Charleston. Doch was passiert wenn die Bühnenscheinwerfer ausgehen? Wer ist Alice Francis unter dem Flapperkleid? Die Autorin Anna K. Baur und die Fotografin Joanna C. Schröder haben sie begleitet, ins Schloss ihrer Mutter nach Rudna, einem kleinen Dorf in Rumänien, unweit der serbischen Grenze.

Rudna// Reportage// F// Joanna Legid// heartxwork, 2019

Im August 2018 sitzt Alice Francis auf einem weißen Plastikstuhl, an einem weißen Plastiktisch, im Garten von Schloss Rudna. Mit am Tisch sitzen ihre Mutter Maria und Victor, der Landarbeiter, der immer anfängt zu weinen, wenn er ein bestimmtes rumänisches Lied hört und dabei an seine Jugend zurückdenkt. Es dämmert, das Abendessen ist verschlungen und der, grob geschätzt, fünfte Pálinka wird gerade ausgeschenkt. Pálinka ist ein Obstbrand und in den ländlichen Gegenden Rumäniens unumgänglich, damit der Alltag in Gang kommt, damit der Alltag ausklingt, damit der Alltag überhaupt stattfindet. „Ohne Pálinka wird hier gar nicht erst gearbeitet“, erzählt Maria schmunzelnd. Der Schnaps gehört zum Frühstück wie die Eier der freilaufenden Hühner, zum Mittagessen wie das Schweinesteak aus den Nacken der gemästeten Hängebauchschweine und zum Abendessen wie der Käse aus der Milch der Schafe, der – vermischt mit Maisbrei – zum Nationalgericht Mămăligă wird.

Alice wurde 36 km südwestlich von Rudna, in Timisoara geboren. Ihre Mutter ist Rumänin. Ihr Vater ist Tansanier. Als Alice fünf Jahre alt war, wanderten sie aus. Nach Köln. Ihr Vater lebte in den letzten Jahren vor seinem Tod 2014 in Leverkusen. Ihre Mutter ist vor einigen Jahren wieder nach Rumänien zurückgekehrt. Sie ist in Rudna in eine Schlossruine gezogen, die sie als Selbstversorger Hof nutzt. Und Alice… Alice pendelt, wenn sie gerade keine Gigs hat, zwischen Köln, Berlin und Rudna.

„Ich wollte damals nur noch weg aus Rumänien“, erinnert sich Maria und kümmert sich um die sechste Runde Pálinka. Mittlerweile ist es stockdunkel. Die in der leichten Sommerbrise flackernden Flammen der Kerzen zeichnen sich als Schatten in den Gesichtern ab. In der Ferne wiehern die Pferde. Dana und Steluta. Mutter und Tochter. Nach der Sicherstellung des Schnapsnachschubs überlagern ernste Themen die lustige Runde. Vorgetragen von einer immer fröhlichen, nie verbitterten, rosige Wangen tragenden Maria. Sie erzählt davon, wie sie Anfang der 1980er Jahre in Rumänien aufgrund ihrer Beziehung mit einem Ausländer, Alices Vater, ständig von der Polizei verhört worden sei. Sie erzählt von einem Antrag, den sie immer hätte mit sich tragen müssen, um zu beweisen, dass Mann und Kind zu ihr gehören. Sie erzählt von jahrelangem Warten auf eine Heiratsgenehmigung. Drei Jahre.

Alices Vater war nicht illegal in Rumänien. Ganz im Gegenteil. Er kam Ende der 1970er-Jahre nach Timisoara, um Medizin zu studieren. Nicolae Ceaușescu, der Diktator, der Rumänien von 1965 bis 1989 regierte, hatte zu dieser Zeit einige Stipendien an Studenten aus Sub-Sahara-Afrika vergeben. Westeuropa verlor das Interesse an den industriellen Gütern Rumäniens. Ceaușescu wollte Afrika als Handelspartner gewinnen und die Bildungsförderung war eine vieler Maßnahmen, die zum gewünschten Ziel führen sollten. Das große Willkommen auf dem Papier, hätten Alices Eltern im täglichen Leben allerdings vermisst.

Abrupt wechselt Maria von der Vergangenheit in die Gegenwart. Sie möchte die Eulen-Teenager frei lassen, die sie vor einigen Wochen hilflos auf dem Boden liegend gefunden hat. Sie seien jetzt flügge. Maria springt vom weißen Plastikstuhl auf und bewegt sich in Richtung der Ställe. Alice stapft in blauer Glanz-Trainingshose, bauchfreiem Top und Gummilatschen hinterher – ein Look, der in Berlin-Kreuzberg als en vogue gilt, ist für Alice ein Nicht-Look, der gerade mal zum Ausmisten der Schweineställe taugt, oder eben zum Freilassen von pubertären Eulen. Kurz: Käfig auf. Eulen raus. Eulen fliegen. Eulen weg. Eine Sache von fünf Minuten. Wieder an der weißen Plastikgarnitur angekommen, den siebten Pálinka im Glas, bemerkt Alice: „Als Kind war ich in Rumänien die Attraktion.“ In Timisoara hätte es nicht viele Kinder mit afrikanischen Wurzeln gegeben. Alle hätten sie süß gefunden und geliebt. Ausgegrenzt oder anders hätte sie sich nicht gefühlt.

Maria:“Erinnerst du dich nicht, dass du mir immer deine Handinnenflächen gezeigt hast…“

Alice: „…und dann habe ich gesagt: ‚Ich bin doch auch weiß`. Stimmt.“

Maria: „Das hat mir damals das Herz gebrochen.“

Alice: „Ich habe nicht verstanden warum ich anders sein soll. Warum das so wichtig ist. Ich habe dann angefangen die Hautfarbe zu ignorieren. Nicht schwarz zu sein. Nicht weiß zu sein. Einfach ich zu sein. Alice Francis zu sein.“

Heute trifft Alice Aussagen wie „Nein, Josephine Baker inspiriert mich nicht, weil sie schwarz war, sondern weil sie so aussieht wie ich.“ oder „Ich habe mit Schwarz-Sein nichts am Hut.“ Wenn sie gefragt wird, woher sie komme, antwortet Alice meist: „aus Rumänien.“ In einem Telefonat vor der Reise nach Rudna erzählt sie, dass sie genau das geantwortet hätte, als sie kürzlich in einer Bar gewesen sei und ein Mann und eine Frau mit afrikanischen Wurzeln die „Woher kommst du“-Frage stellten. Die beiden hätten sich mit der Antwort nicht zufrieden gegeben.

Die beiden: „Woher kommst du wirklich?“

Alice: „Mein Vater ist Tansanier.“

Die beiden: „Warum sagst du das nicht gleich? Du verleugnest deine afrikanische Identität!“

Alice erwidert, dass sie nichts verleugne. „Ich bin in Rumänien geboren und habe die ersten fünf Jahre dort gelebt. Ich bin mehrmals im Jahr in Timisoara, spreche die Sprache, identifiziere mich mit der Kultur, warum soll es nicht richtig sein, wenn ich sage: „Ich bin Rumänin?“ Alice war erst zweimal in Tansania. Ihr Vater hatte ihr die Sprache, Sitten und Gebräuche des Landes nicht näher gebracht. „In Tansania lachen sich die Leute kaputt, wenn ich sage, dass ich Tansanierin bin. Aus ihrer Sicht bin ich eindeutig aus der weißen Welt, obwohl meine Hautfarbe relativ dunkel ist.“ Sie fühle sich dort ausgegrenzt und werde von ihren Verwandten „Mzungu“ (Begriff aus der Bantusprache für Menschen europäischer Abstammung, Anm .d. Red.) genannt. Was würde zwei Fremde in einer Bar schon darüber wissen. Nur weil die beiden und Alice sichtbare optische Merkmale einer afrikanischen Herkunft hätten, würde das nicht bedeuten, dass sie obligatorisch Verbündete seien.

Nach dem achten Pálinka wechselt Alice von der auf dem weißen Plastikstuhl sitzenden Position in die auf dem Sofa liegende im Wohnzimmer. Sie kommt auf ihre frühen Erfahrungen als Tochter eines tansanischen Vaters in Rumänien zurück. Sie erzählt nachdenklich, dass sie es schon damals gut gefunden hätte im Mittelpunkt zu stehen. Von den Leuten als besonders angesehen zu werden. Nur finde sie es nicht ausreichend wenn die Besonderheit auf das Aussehen, auf die Hautfarbe reduziert werde. „Ich habe vor langer Zeit angefangen, mich als Individuum zu stärken, die Identifikation in mir selbst zu suchen.“ Es sei um einiges angenehmer, die Aufmerksamkeit als Sängerin auf sich zu ziehen, stellt Alice fest, während sie ein verirrtes Huhn entdeckt, das sich hinter der Staffelei schlafen gelegt hat. Sie nimmt es auf den Arm und trägt es nach draußen.

[…] I was trying to pin point my own wish to believe it at it is extremely tempting sometimes and very comforting the feel that I am in some deep spiritual way a black woman connecting to all these black woman. […] I love her but that’s the kind of relationship I am interested in – between individuals and between people. It has to be love not just a claiming for the sake of the claim. […]- Zadie Smith on Culture vs. Race, Bernard College

Es ist dr 26. August. Der Tag nach der Nacht auf den weißen Plastikstühlen, der freigelassenen Eulen, dem Schwelgen in Erinnerungen an ein Rumänien der 1980er Jahre. Alice hat Geburtstag. Livio, ein Freund der Familie schlägt vor, an die nahe gelegene Temesch zu fahren. Die Nacht am Ufer des Flusses zu verbringen. Zu Fischen. Ein Lagerfeuer zu machen. Es werden Zelte und Angelruten eingepackt. Die auserwählte Stelle ist umgeben von hohen Gräsern. Nur ein entfernter Feldweg lässt an der Unberührtheit der Natur zweifeln. Die Angelruten sind ausgeworfen. Die Zelte stehen. Das Lagerfeuer lodert. Fische werden in dieser Nacht keine gefangen. Dafür erzählt Liviu Geschichten. Liviu war als Jugendlicher Haus- und Hoffotograf von Nicolae Ceaușescu und später Kriegsjournalist im Balkankrieg. Er erzählt vom Krieg. Von Dracula. Vom Diktator. In der Ferne durchbrechen zwei kleine gelbe Punkte die Nacht. Scheinwerfer eines Autos, das einsam und verlassen den Feldweg entlang schleicht. Livio erklärt, dass die serbische Grenze nicht weit sei und die Polizei hier regelmäßig nach Geflüchteten suche.

Seit Bulgarien und Ungarn ihre Grenzen mit Stacheldraht gesichert haben, führen die Schlepper die Menschen über Rumänien nach Westeuropa. Die Kontrollen an der Temesch hätten zugenommen. Liviu guckt um sich. Er stellt fest, dass alle in der Runde von außen betrachtet in das Beuteschema der Grenzpolizei passen würden. Drei Frauen mit afrikanischen Wurzeln. Sie könnten vor Klimawandel, Armut oder Krieg fliehen. Er könnte der Schlepper sein. Liviu denkt laut darüber nach wie er reagieren würde, wenn die Polizisten hier her kämen. Er würde sagen: „Das sind meine Kinder.“ Das wäre die Rettung. Gelächter. Nichts passiert. Das Auto verschwindet in der Dunkelheit. Auf dem Rückweg zu Maria – die die kleine Geburtstagsgesellschaft um drei Uhr nachts mit Pálinka und einer ordentlichen Mahlzeit erwartet – wird Livius Auto am Ende des Feldweges von Polizisten angehalten. Die beiden Beamten leuchten mit der Taschenlampe in die Gesichter der Insassen. Erst in Livius Gesicht. Am Ende in Alices Gesicht. Ein Schlagabtausch auf Rumänisch. Bedrohlich. Dann fallen die Namen „Alice Francis“ und „Castel Rudna“. Die Grenzpolizisten lächeln beschämt wie zwei Teenager, die gerade ihr Idol getroffen haben. Sie geben Livio das Zeichen zur Weiterfahrt. Ohne das Vorzeigen von Papieren. Ohne Verhör.